Ein Mythos namens Abfallvermeidung –
In Memoriam Werner Schenkel


Michael Angrick

„Willst Du ein Schiff bauen, so rufe nicht die Menschen zusammen, um Pläne zu machen, Arbeit zu verteilen, Werkzeuge zu holen und Holz zu schlagen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen endlosen Meer“

Antoine de Saint-Exupéry


Den früheren Fachbereichsleiter des Umweltbundesamtes, Werner Schenkel, zu ehren, kommt man dann besonders schnell nah, wenn man sich dessen Veröffentlichungen anschaut. Man steht dann nur noch vor der Qual der Wahl, welches Thema man besonders beleuchten sollte. In jedem Falle fällt aber auf, wie modern, die Arbeiten heute noch sind.

Ich wende mich im Folgenden dem Thema der Abfallvermeidung zu.
Am 17. Juni 2008 hat das Europäische Parlament der Novelle der Abfallrahmenrichtlinie zugestimmt.
Ein wesentliches Element der neuen Richtlinie ist eine fünfstufige Abfallhierarchie:

  • Vermeidung und Reduzierung von Abfällen
  • Wiederverwendung von Abfällen („re-use“)
  • stoffliche Verwertung von Abfällen („recycling of waste“)
  • andere Verwertungsmaßnahmen („other recovery operations“)
  • sichere und umweltgerechte Beseitigung


An oberster Stelle steht dabei die Abfallvermeidung. Sie soll, als vorrangigstes Ziel einer modernen Abfallpolitik, gestärkt werden. Damit sind wir bereits am entscheidenden Punkt angelangt: Was ist Abfallvermeidung? Wie können wir sie erreichen? Kann Abfall überhaupt vermieden werden?

Zunächst: Unter Abfallvermeidung versteht der Autor Maßnahmen, die das Entstehen von Abfällen verhindern. Denn der beste Abfall ist derjenige, der erst gar nicht entsteht.

In den 1980er und 1990er Jahren haben viele Kommunen in Deutschland erhebliche Anstrengungen unternommen, der Bevölkerung abfallvermeidende Maßnahmen näher zu bringen. Unter dem Strich waren es Hinweise auf bestimmte Verhaltensweisen der Verbraucherinnen, die nur in wenigen Fällen zu tatsächlichen Abfallvermeidungen beitrugen. Viele Anstrengungen in der Folgezeit führten ebenfalls nicht zu dem gewünschten Ergebnis. (Kopytziok)

Dass Abfälle vermieden werden sollen, ist unstrittig. Allerdings muss man sich gewisse Zusammenhänge klar machen, bevor man mögliche Vermeidungsstrategien beurteilen möchte.

Industrielle Wirtschaftssysteme transformieren wertvolle Rohstoffe in nutzlosen Abfall. (Georgescu-Roegen) Diese Aussage des amerikanischen Ökonomen zitierte Schenkel gern und häufig.

Ohne diesen Prozess einer ständigen Entwertung von Produkten zu Abfällen kann unser kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht funktionieren. (Schenkel und Reiche)

Bei den Abfällen des täglichen Lebens sind es im Wesentlichen die Erzeugnisse selbst, die nach Gebrauch oder Verbrauch als Abfall anfallen. Jedes dieser Waren kann früher oder später durch subjektive oder objektive Einschätzung zu Abfall erklärt werden. Abfall ist immer auch ein Phänomen der jeweiligen Werteskala des Besitzers. Es gibt nichts, was nicht zugleich Wertstoff und Abfall sein könnte. Es muss uns klar sein, dass letztlich die Industriegesellschaft ausschließlich Abfälle produziert, sei es der Joghurtbecher sofort oder Maschinen in Industrieanlagen erst nach vielen Jahrzehnten. (Schenkel)

Strategien zur Abfallvermeidung

Strategien zur Abfallvermeidung müssen also an den prinzipiellen Zusammenhängen von Produktion, Konsum und Abfall ansetzen. Strategien, die sich mit der Vielfalt der Stoffflüsse, den Im- und Exporten, der Beschleunigung der Materialdurchsätze, der Entwicklung industrieller Strukturen bei veränderten Rohstoffpreisen beschäftigen.

Strategien, die den Stofftausch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, das Auseinanderdriften von Lohnkosten zu Rohstoff- und Materialkosten berücksichtigen.

Abfallwirtschaft ist gleichzeitig Rohstoffwirtschaft, im großen Umfang Handels- und Entwicklungspolitik und umfasst auch Strukturpolitik. (Schenkel)

Eine Wiederverwendung erfolgt unter weitgehender Beibehaltung der Produktgestalt und seiner bisherigen Funktion. Ist die Funktion nicht mehr die gleiche wird von Weiterverwendung gesprochen. In jedem Falle handelt es sich um eine Verwendungsform auf noch hohem Wertniveau.

Die Verwertung löst die Produktgestalt auf, damit ist ein Wertverlust verbunden. Wird eine gleichartige Produktion, wie beim Ausgangsprodukt durchlaufen, handelt es sich um eine Wiederverwertung; ist dies nicht der Fall spricht man von Weiterverwertung.

Der stofflichen Verwertung an die Seite gesellt sich die Thermische Verwertung (die Abfallrahmenrichtlinie enthält eine klare Abstufung!), bei der nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik die Materie ihre Erscheinungsform ändert.

Abfallvermeidung im wahren Wortsinne ist demnach nur durch Wiederverwendung gegeben, dies ist beispielsweise bei Mehrwegverpackungen der Fall.

Die Wiederverwertung von sortenreinen Abfällen aus dem Produktionsprozess in gleicher Anwendung führt nach Aufbereitung zu weitgehend gleichwertigen Werkstoffen. Dieses sogenannte innerbetriebliche Recycling wird von einigen Autoren als eine Maßnahme zur Abfallvermeidung betrachtet, weil der entstandene Abfall außerhalb des Betriebes nicht in der Bilanz auftaucht. Dabei wird anscheinend vergessen, dass auch jeder noch so sinnvolle Aufbereitungsprozess wieder Energie und Materie benötigt und sei es in Form von Aufbereitungsmaschinen.

Wenn also schon das innerbetriebliche Recycling keine echte Abfallvermeidung ist, die Weiterverwertung, das Materialrecycling, das klassische Recycling ist es erst recht nicht. Zum einen gibt es kaum einen Stoff, der unendlich oft recycelbar ist, zum anderen belastet auch jeder erneut durchlaufene Kreislauf die Umwelt und benötigt Energie, die wiederum Probleme nach sich zieht. Dem Recycling sind naturgesetzliche Grenzen gesetzt. Zwar kann Materie weder verloren gehen noch zerstört werden, aber alle Prozesse sind mit Verlusten in verschiedener Form verbunden (Abrieb, Verschleiß usw.) und führen dazu, dass eine Verteilung von Stoffen stattfindet. Daher bilden Prozesse keine Kreisläufe, sondern eher linienförmige Wege von der Stoffquelle zur Stoffsenke aus. (Schenkel) Es ist daher gerechtfertigter heute noch häufiger von einer Durchfluss- denn von einer Kreislaufwirtschaft zu sprechen. (Angrick)

Die Entropie in geschlossenen Systemen nimmt immer zu. Zustände hoher Ordnung (Produkte) werden durch stoffliche Verteilung in Zustände niedriger Ordnung (Abfälle) verwandelt; die Umkehr erfordert Energiezufuhr.

Durch Recyclingverfahren werden auch zwangsläufig die in allen Erzeugnissen immanenten Schadstoffe mit jedem Kreislauf angereichert. Auch durch funktionale Anforderungen an Erzeugnisse ist das Recycling begrenzt. Selbstverständlich soll Wiederverwertung oder Weiterverwertung betrieben werden, aber es ist ein Trugschluss zu glauben, damit das Abfallproblem gelöst zu haben. (Schenkel)

Abfall lässt sich nur vermeiden, wenn der spezifische Stoff- und Energieeinsatz reduziert wird. Die größten Mengen an Produktionsabfällen entstehen bei der Gewinnung von Rohstoffen und nehmen ab, je ausgefeilter die Produktion des eigentlichen Erzeugnisses gestaltet ist. Also ist es folgerichtig, die Abfallmengen bei der Rohstoffgewinnung zu begrenzen. Dies praktiziert die Industrie seit Jahren, weil nicht nur die Gewinnung von Rohstoffen im Ausland geschieht, sondern auch häufig die Herstellung von Halbzeugen (Primärprodukten) dort stattfindet. So sieht unsere Abfallstatistik doch hübsch umweltfreundlich aus. Inwieweit die Minderung des Stoff- und Energieeinsatzes bei der Produktion von Erzeugnissen tatsächlich abfallverringernd zu Buche schlägt, ist ungewiss. Schließlich kann durch zunehmende Miniaturisierung der Anteil an Verbundwerkstoffen beispielsweise steigen, was dazu führt, dass diese Waren einer stofflichen Verwertung häufig nicht mehr zugeführt werden können. Die Miniaturisierung hat auch dazu geführt, dass häufig Waren in größerer Stückzahl für eine größere Zahl an Konsumenten zugänglich gemacht werden können. Die Industriegesellschaft ist heute mit vielen Geräten überzogen, die klein und leicht, aber eigentlich herzlich überflüssig sind (z. B. Mobiltelefone, Digitalkameras und MP3 Player). Der Rebound – Effekt, gerade von der Bundestags Enquetekommission „Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität“ wieder entdeckt, fletscht seine hässlichen Zähne. (Angrick 2002)

Darüber hinaus wird die mögliche Abfallverminderung durch den systemimmanenten Wachstumszwang häufig wieder zunichte gemacht. Dem Wachstumswahn hat Werner Schenkel sich ebenfalls gern und ausführlich gewidmet. Schließlich gab er ein Buch mit dem Titel Schrumpfungen (Schenkel 2000) heraus, womit klargestellt war, welche Position er bezog.

Eine Änderung könnte nur dann gelingen, wenn die Hersteller in die Verantwortung für die Erzeugnisse eingebunden werden, auch wenn diese Waren das Werksgelände verlassen haben. Diese Idee der sogenannten Produktverantwortung ist im deutschen Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz ausgestaltet worden. Danach umfasst die Produktverantwortung unter anderem die Entwicklung und Herstellung, die Nutzung sowie die Entsorgungsphase, also den gesamten Lebenszyklus eines Erzeugnisses. Die Produktverantwortung verlangt eine Neuorientierung hin zum ökologischen Design und zur Verringerung von Stoffströmen bei der Herstellung und dem Gebrauch von Erzeugnissen. (Fricke)

Wichtigste Maßnahme der Produktverantwortung ist die Verpflichtung der Hersteller zur Rücknahme ihrer Erzeugnisse nach deren Nutzung. Dieser Gedanke sollte die Produzenten dazu bringen, die Waren so zu konstruieren, dass sie sich leicht demontieren lassen, deren Inhaltsstoffe bekannt und unbedenklich sind und dass sogar auf eine gewisse Langlebigkeit der Erzeugnisse geachtet wird, da auf diese Weise Kosten reduziert werden können.

Der Mythos

Abfallvermeidung ist damit gleichwohl nicht zu erreichen. Es werden – weil alles wachsen muss – immer neue Produkte auf den Markt gebracht. Auch im Mehrweg genutzte Produktverpackungen und dergleichen mehr, werden Abfall. Selbst falls Erzeugnisse demontagefreundlich sind, falls sie für eine längere Lebens- und Nutzungsdauer konzipiert wurden, sie bleiben ständig neue Waren auf dem Weg zum Abfall. Daher ist der Begriff Abfallvermeidung ein Mythos, ein nicht erreichbares Ziel.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Abfall vermeiden heißt, die Entwertung eines Rohstoffs zu einem Produkt zu vermeiden! Das bedeutet in erster Linie, dass man auf den Erwerb von Erzeugnissen verzichten muss. Einen solchen Weg zu verfolgen heißt vor allem, die in den Industriegesellschaften üblichen Werte umzuwerten und andere Indikatoren für wirtschaftlichen Erfolg zu finden. Nicht mehr häufige, technisch oder modisch begründete Produktwechsel, sondern Langlebigkeit der Erzeugnisse, nicht mehr Eigentums-, sondern Nutzungsgesichtspunkte, nicht mehr auf Rohstoffverbrauch begründetes Wachstum, sondern Wachstum von rohstoffarmen Waren und Dienstleistungen wären die Messlatten des nachhaltigen Fortschritts. (Schenkel und Reiche)

Noch sind wir von „Ressourcennotständen“ weit entfernt, noch gilt das Wachstumsdogma, dem wir uns alle unterworfen haben. Erst wenn wir spüren, dass wir „ Müll gemacht haben“, weil wir über die letzten zweihundert Jahre die erschöpfbaren natürlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf kommende Generationen ausgebeutet haben, werden wir vielleicht zu der Einsicht gelangen, dass eine Umkehr die „ultima ratio“ darstellt. Wir benötigen diese letzte Weisheit in Form neuer Fortschrittsmuster, in Form eines neuen Wirtschaftens, das generativ verträglich sein muss. Zu dieser Einschätzung gelangte man bereits auf der Rio Konferenz von 1992.
Und auch die Milleniumsziele der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2000 enthalten die klare Aufforderung, dass „dem Verlust von Umweltressourcen Einhalt geboten werden soll“.

Die Ziele sind klar, die Aussichten bei „Nichtbefolgung“ ebenfalls.

Was wir jetzt benötigen, ist im Sinne von de Saint-Exupéry die gemeinsame Sehnsucht nach dem Meer!

Werner Schenkel war ein Mensch, der die Fähigkeit in reichem Maße besessen hat, anderen die Sehnsucht nach dem Meer zu vermitteln.
 

 

Literatur

Kopytziok: Kopytziok, Norbert:
Vorreiterstatus verloren. Müllmagazin 2, S. 23 – 25, 2007

Georgescu-Roegen: Georgescu-Roegen, N.:
Was geschieht mit der Materie im Wirtschaftsprozess? – In Brennpunkte: Recycling:
Lösung der Umweltkrise?, S. 17 – 28 (1974)

Schenkel: Schenkel, Werner und Martin Faulstich:
Möglichkeiten und Grenzen der Abfallvermeidung in Schenkel, Werner (Hrsg.):
Recht auf Abfall? Erich Schmidt Verlag, Berlin, 1992

Schenkel und Reiche: Schenkel, Werner und Jochen Reiche:
Abfallwirtschaft als Teil der Stoffflusswirtschaft in Schenkel, Werner (Hrsg.):
Recht auf Abfall? Erich Schmidt Verlag, Berlin, 1992

Schenkel 2000: Hager, F. und W. Schenkel (Hrsg.):
Schrumpfungen. Chancen für ein anderes Wachstum. Springer Verlag, Berlin Heidelberg 2000

Angrick: Angrick, Michael:
Ressourcenschutz für unseren Planeten, Metropolisverlag, Marburg, 2008

Angrick 2002: Angrick, Michael:
Das Internet – Antworten auf die Frage nach Information und Nachhaltigkeit?
In Jahrbuch Ökologie 2003, S. 124 – 130, Verlag C. H. Beck, München 2002

Fricke: Fricke, Arno;
Fünfzehn Jahre Produktverantwortung – Eine Bilanz der ordnungsrechtlichen Regelungen für Produktströme zeigt neue Lösungsansätze auf. Müllmagazin 2, S. 10 – 15, 2007