Wieso Abfall vermeiden? Lauter Fragen …


MinRat Dr. Andreas Jaron

Wo stehen wir?

Ich stehe auf einem Berg etwa 15 Kilometer östlich der indonesischen Hauptstadt Jakarta. Der Berg heißt Bantargebang und ist eine der größten Müllhalden Südostasiens. Der Gestank in dem Dorf, das inmitten des Mülls liegt, ist erbärmlich und Ausdruck des unvorstellbaren Elends, in dem die 20.000 Menschen hier leben. Sie durchwühlen bis tief in die Nacht den Müll der wohlhabenderen Bevölkerung nach etwas, das sich zu Geld machen lässt. Das gleiche Bild überall in Schwellen- und Entwicklungsländern, ob in Shanghai, Sao Paulo, Lagos oder Kairo: Millionen Kinder, Männer, Frauen, alte Menschen werden auf Müllkippen geboren, durchklauben den Müll und beschließen ihr Leben dort.

Die Menschen des sog. „Informellen Sektors“ haben überall ihre Namen: ob „Waste picker“, „Sabbalin“, „Catadores“ oder „Kabariwalas“ - gemeinsam ist ihnen, dass sie für geringstes Einkommen ohne vertragliche Anstellung, ohne besondere Schutzmaßnahmen und ohne gesellschaftliche Anerkennung das noch Brauchbare aus dem Müll klauben oder direkt bei den Haushalten abholen. Sie sortieren, recyceln und verkaufen. Damit leisten sie einen Beitrag zur örtlichen Wirtschaft, zu öffentlicher Gesundheit und Sicherheit, zu Umwelt- und Ressourcenschutz. Trotzdem ist ihre Unterstützung durch Regierungen und Kommunen meist gering.

Und selbst in den hochentwickelten Industrieländern sortieren Rentner nachts den Müll von Seoul oder Arbeitslose die Mülleimer deutscher Flughäfen. Und als ich im November 1989 in Halle-Lochau eine erste Besichtigung der dortigen Deponie durchführte, war die Überraschung groß: Kolonnen russischer Soldaten durchwühlten den Müll der DDR-Bürger nach Brauchbarem.

Die Fakten

Die Abfallmengen sind schier unbegreiflich: Jedes Jahr entstehen weltweit einige Milliarden Tonnen Abfälle. Je reicher ein Land, umso mehr Abfälle entstehen. Derzeit leben etwa 7,5 Milliarden Menschen auf unserem Planeten, im Jahr 2050 werden es wohl schon mehr als 9 Milliarden sein. Würde man allein den Hausmüll des Durchschnittsdeutschen auf die derzeitige Weltbevölkerung übertragen, müßte man (ich liebe dieses immer wieder gern gewählte Bild) einen Güterzug zum Abtransport füllen, der über 600.000 km lang wäre, also fast zweimal der Strecke von der Erde zum Mond entspricht.

Einen Berg wie Bantargebang, auf dem Menschen ihren Lebensunterhalt finden, gibt es in Deutschland nicht (mehr). Aber Deutschland ist mit 334 Millionen Tonnen Abfall – 4.137 Kilogramm pro Kopf – beteiligt; das umfaßt auch Industrie-, Bergbau- und Gewerbeabfälle (einschl. Bau- und Abbruchabfälle). Unmittelbar ist jeder Deutsche „nur“ für seine 453 Kilogramm Hausmüll verantwortlich. Aber mittelbar steht es auch für die Industrie- und Gewerbeabfälle, die weltweit bei der Produktion seiner Konsumgüter entstehen. In jedem unserer Smartphones stecken über 40 verschiedene Metalle und Mineralien, ohne die die notwendige Miniaturisierung nicht möglich wäre. So ist jeder Handynutzer letztlich auch für den Abraum, der bei der Förderung von Selten Erden in China entsteht, verantwortlich. Nebenbei bemerkt: indirekt sind wir z.B. auch an der Kinder- und Sklavenarbeit im Kongo beteiligt, wo das für elektronische Geräte wichtige Koltan gewonnen wird. Das Fatale ist: Alles, was wir aus der Erde gewinnen und in Produkten nutzen, wird schließlich zu Abfall! Aber warum nicht zurück in die Natur damit, wo wir die Stoffe hergeholt haben?

Was sind die Dimensionen des Problems?

Soziale Dimension

Daß die reichsten 2 Prozent der Weltbevölkerung ca. 51 Prozent des gesamten Reichtums besitzen, daß 25% der Menschen 75% der Ressourcen nutzen, daß die reichen Länder pro Kopf weit mehr Abfälle produzieren, als die armen – das ist die soziale Dimension. Die soziale Ungerechtigkeit zwischen den heute Lebenden gegenüber künftigen Generationen hat zudem längst eine Dimension, die zu kriegerischen Auseinandersetzungen führt.  Verschleiert wird dies oftmals von religiösen Argumenten – letztlich handelt es sich aber um den uralten Kampf um Ressourcen.

Unser Wohlstand darf nicht auf Kosten anderer Teile der Welt oder künftiger Generationen gehen – dies ist weder ethisch noch nachhaltig! Das ist gut gesprochen: Der Einzelne kann dem entgegenwirken, durch verantwortungsbewußten Konsum, ressourcenschonendes Verhalten im Alltag oder ehrenamtliches Engagement, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies reicht jedoch nicht: internationale und nationale Regeln müßten so gestaltet sein, daß sie ärmeren Menschen Chancen bieten und die Ressourcenbasis unseres Planeten erhält. Das kann Abfallvermeidung als nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen leisten.

Wir alle haben ein Interesse daran, daß unsere Umwelt intakt ist, daß wir saubere Luft zum Atmen haben, daß weltweite Finanz- oder Wirtschaftskrisen vermieden und daß ansteckende Krankheiten schnell eingedämmt werden. Politik für nachhaltige Entwicklung ist Friedenspolitik und eine lohnende Investition in unser aller Zukunft.

Ökonomische Dimension

Rohstoffe, Energie und Umwelt (das Naturkapital) sind neben Human- und Finanzkapital die wesentlichen Produktionsfaktoren. Die Wirtschaft ist heute und künftig auf ein nutzbares Naturkapital angewiesen. Dies umfaßt neben Verfügbarkeit und Reinheit auch die komparative Bezahlbarkeit. Eine nationale oder globale Wirtschaft, die das Naturkapital unwiederbringlich zerstört oder nicht mehr nutzen kann, kann nicht dauerhaft sein. Die Schumpetersche Schöpferische Zerstörung als unendlicher Prozeß der Innovationen findet dort ihr Ende, wo die Innovationen auf Grund der limitierenden Ressourcenknappheiten ökonomisch nachteilig werden.

Spiegelbild dieser Zerstörung von Naturkapital ist der Abfallberg. Für die Wirtschaft sind weggeworfene Abfälle entgangene und verlorene Möglichkeiten der wirtschaftlichen Betätigung. Sie sind eine Fehlleistung des Systems! Denn kurzfristig haben sie keine oder kaum Auswirkungen (zumindest bei funktionierendem Wettbewerb), langfristig führen sie zu komparativen Nachteilen für alle. Damit aber sind die Anreize für politisches Gegensteuern nur schwach oder kommen zu spät.

Der Fehler läßt sich technisch auf drei Wegen beheben: 1. Abfallvermeidung, 2. Abfallrecycling, 3. Rohstoffgewinnung aus Abfallablagerungen. Nur der erste Weg ist tatsächlich nachhaltig, weil nur er eines geringen Energieaufwands bedarf um der Unordnung durch die Warendistribution und die Ablagerung gemischter Abfälle entgegenzuwirken.

Ökologische Dimension

Abfall ist wie gesagt die Kehrseite von Produktion und Konsum: Alles, was Menschen herstellen sowie ge- und verbrauchen, wird letztlich auf die eine oder andere Weise zu Abfall (ausgenommen der Endlagerung von CO2 in der Atmosphäre). Nun könnte man natürlich auf die Idee kommen, die Rohstoffe, die wir nun bereits in Gebrauch genommen haben, wieder als sekundäre Rohstoffe dem Wirtschaftskreislauf zurückzugeben. Dies geschieht ja als Recycling auch bereits in vielen Fällen - insbesondere in denen es sich monetär auszahlt. Allerdings trifft die Kreislaufführung auf eine grundlegende Hürde: die Entropie. Als „Maß für die Unordnung“ kann man sie sich vorstellen als den Energieaufwand, der zur Aufkonzentration von Rohstoffen, die verdünnt verteilt auf der Erde vorhanden sind (natürlich oder auf Grund der Warendistribution), als Voraussetzung für deren Nutzung notwendig ist.

Daß wir beim aktuellen Ressourcenverbrauch der Menschheit künftig weit mehr als nur den einen Planeten benötigen werden, den wir bewohnen, ist eine existentiell ökologische Dimension, denn die natürlichen Ressourcen werden in der Zukunft nicht mehr für alle Menschen ausreichen. Nachhaltig wäre das Handeln ressourcenökonomisch nur, wenn die bestehenden Systeme in ihrer Funktion als „Lebensmittel“ dauerhaft erhalten blieben. Es zeigt sich aber, dass unsere aktuelle Wirtschafts- und Lebensweise die Belastungsgrenzen der Erde auf Kosten (spätestens) künftiger Generationen überschreitet.

John Maynard Keynes hat (in anderem, aber vergleichbaren Zusammenhang) festgestellt: „In the long run we are all dead!“ Dies ist für das Individuum banal, für die Menschheit jedoch eine exorbitante Herausforderung; sie fordert, die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde zu respektieren und auch kommenden Generationen eine gute wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Für die Abfallvermeidung heißt dies, von den Produkten den bestmöglichen Gebrauch zu machen, sie also ressourcensparend und langlebig (qualitäts-, reparatur-, recycling-affin) zu entwickeln und die notwendige Wertschätzung des Verbrauchers für seinen Besitz zu fordern.

Psychologische Dimension

„Mehr zu sein, mehr zu haben, mehr zu wollen“ scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Sich durch Konsum zu äußern, ein Haus zu bauen, „den Kindern soll es besser gehen“, der neuen Mode zu folgen, ein neues Smartphone, ein größeres Auto – wer wollte sich davon gänzlich frei machen? Es scheint selbstverständlich, daß Wohlstand mit materieller Fülle verbunden wird. Aber ist der „Wohl-Stand“ nicht eher eine Frage der Zufriedenheit, die wenig mit Konkurrenz oder Reichtum, sondern eher mit einem intakten sozialen und natürlichen Umfeld zu tun hat?  

Es geht nicht darum, der Armut das Wort zu reden, sondern darum, sich nicht zu fixieren, nicht das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Die negativen Folgen des Konsums erzeugen nämlich in der „Wohlstandsgesellschaft“ - leider - auch kein schlechtes Gewissen als mögliche Bremse des Konsums, denn durch eigenes Tun kann vermeintlich ein ordnungsgemäßer Zustand („wieder“) hergestellt werden – wenn man so will: es kann gebüßt werden.

Wie das? Regelmäßig erhält man als weitaus häufigste Antwort in Umfragen, was der Bürger individuell für den Umweltschutz tut: Getrennthaltung der Abfälle! Die bunten Tonnen vor dem Haus quasi als Beichtstühle der Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft. Und tatsächlich gelingt es uns so, relativ hohe Recyclingraten zu erreichen – aber eben nur geringe Vermeidungserfolge! Niemand verzichtet freiwillig auf die Kaufkraft, die er durch sein Einkommen erlangt hat; „Verzicht“ findet in der Diskussion um Abfallvermeidung kaum Erwähnung und keine Unterstützung. Ohne Verzicht gibt es aber nicht weniger Abfälle! Man kann allerdings das „Abfall-Erscheinungsdatum“ verzögern, indem man langlebigere, qualitativ höherwertige oder robustere Produkte kauft, oder statt materieller Güter Dienstleistungen ersteht. Dies führt im Zeitablauf dazu, dass die jährliche Menge der erzeugten Abfälle abnimmt.

Politische Dimension

Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit und Wirkung, aber auch der eklatanten Widerstände ist der Abfallvermeidung nur durch (staatlichen) Zwang beizukommen. Oder, wie es in einer Diskussion des DGAW einmal vorgeschlagen wurde: „Einfach die unnützen Produkte verbieten!“

Dem ist zu entgegnen: Der demokratische Staat darf auf Grund seiner Verfaßtheit die Rechte der Menschen nur einschränken, wenn er dadurch Gefahren abwehren kann. Im übrigen ist die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung garantiert. Deshalb gibt es Verbote für bestimmte Chemikalien, aber nicht für die neueste Modekollektion aus Paris. Auch wenn ich viele Dinge als völlig überflüssig ansehe - das einzige Gremium, das entscheidet, was gekauft wird, sind die Marktteilnehmer.

Vielleicht kommen wir in einer (hoffentlich) ferneren Zukunft dazu, auf Grund der globalen Knappheiten und Ungerechtigkeiten Konsumregulierungen einführen zu müssen – aber machen wir uns nichts vor: das wäre eine Diktatur.

Die Lösung

Das Erzeugen von Abfall ist hinsichtlich der Dimensionen und langfristigen Wirkungen eine äußerst geringe intelligente Leistung. Wir sollten uns angesichts der Motivationen und Tendenzen der Wegwerfseite unserer Konsumwelt daher auch keine Illusionen machen, denn Intelligenz wird traditionell für den Gewinn, nicht für den Verlust aufgebracht.

Alle, die wir uns mit dem Thema „Abfallvermeidung“ befassen, kämpfen mit unseren Ideen und Kräften für die Lösungen, die wir als richtig erkannt haben. Einige Wege sind genannt worden, das Abfallvermeidungsprogramm des Bundes und der Länder von 2013 benennt umfassend die Maßnahmen, die der Staat realistischerweise ergreifen kann. Dies sind im wesentlichen Aufklärung, Forschung, Kommunikation usw., nicht aber Verbote, Beschränkungen oder Strafen. Aber auch in Unternehmen fanden und finden mit Blick auf die Entsorgungskosten Maßnahmen zur Reduzierung der Abfallmengen statt; die öffentliche Hand hat in der Vergangenheit immense Summen in die entsprechende Forschung investiert.

Es ist gut, daß es Lösungsvorschläge aller Art gibt; ob „Zero Waste“, „Von der Wiege zur Wiege“ oder „Nutzen statt besitzen“, um nur einige zu nennen. Denn es geht darum, die Intelligenz auf die Herausforderungen unseres Umgangs mit der Natur, auf die Belastungen und die Reduzierung des „Abfalls“ zu lenken. Denn unsere Intelligenz brauchen wir dringlichst für die Bekämpfung der Armut, für den Erhalt der Umwelt und der natürlichen Ressourcen, für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte und für eine faire Gestaltung der Globalisierung. Und dafür, daß auch die Menschen in Bantargebang und auf den anderen Müllkippen der Welt in ein würdevolles Leben finden können.